Erika und Tine sind 81 Jahre alt und seit 40 Jahren ein Paar. Die beiden Frauen leben auf einem selbst ausgebauten Hof in Brandenburg und schauen auf ein bewegtes Leben zurück. In der DDR mussten beide um persönliche und künstlerische Freiräume kämpfen und rangen täglich mit dem Sozialismus, erst recht aber mit dessen real existierenden Widersprüchen. Anders als andere DDR-Kulturschaffende, die an der Ablehnung ihrer Kunst und Ideen zerbrachen, blicken beide heute humorvoll auf die vielfältigen Dokumente ihres Lebens und kontextualisieren und konterkarieren die zahlreichen Stasiakten mit ihren eigenen Erinnerungen, Fotos, Gemälden, Skulpturen und Texten. Sie nutzen die Gespräche mit der jungen Regisseurin, um einen genauen Blick in die eigene (DDR-)Vergangenheit, aber auch in die Nachwendezeit, in Gegenwart und Zukunft zu werfen. Was vermag Kunst in gesellschaftspolitisch herausfordernden Zeiten? Wie kann man sich selbst, der Kunst und den eigenen Idealen treu bleiben? Wo sind Frauen bis heute konfrontiert mit struktureller Benachteiligung? Wie lassen sich gemeinsam gesellschaftliche Missstände ausräumen? Indem der Film ganz selbstverständlich bei seinen Protagonistinnen bleibt, gelingt eine betörend klare Erzählung über Freiheit, Autonomie, Kreativität und Sozialität – und nicht zuletzt eine wunderbare Ode an die Liebe. Luc-Carolin Ziemann.
Im Stillen Laut
Presentation
"Die entscheidende Frage ist doch, wofür möchte ich frei sein?" "Was genau soll denn anders werden?" Erika und Tine, 81, und seit 40 Jahren ein Paar, schauen auf ein bewegendes Stück Geschichte zurück. Im Stillen Laut ist ein Film über Liebe im Alter und Autonomie, über Kunst und Kollektivität in geschaffenen Freiräumen der DDR. Der Film macht nicht in der Vergangenheit halt, sondern blickt mit Erika und Tine in die Zukunft: Was vermag Kunst in gesellschaftspolitisch herausfordernden Zeiten? Wie kann man sich, der Kunst und seinen Idealen treu bleiben? Welchen Sinn kann Kunst schaffen für das große Ganze und für jede/n von uns individuell?
Im Stillen Laut stellt bewusst die subjektiven Erfahrungen der zwei Frauen in den Fokus, fragt nach ihren Strategien als Künstlerinnen den Alltag in einem autoritären Regime zu bestreiten und nach ihrem Umgang mit der alles verändernden Wende. Ihre Widersprüche, Visionen und Erinnerungen verdichten sich zu einem komplexeren Bild ostdeutscher Erfahrung. Ein Bild, das sich nicht in die üblichen Widerstands- oder Propagandanarrative einfügen lässt, sondern, wie seine Protagonistinnen, widerspenstig bleibt.
Im Stillen Laut entstand aus der Idee heraus, einen Fokus auf die Vielseitigkeit des Kunstschaffens sowie weibliche Künstlerinnen-Biografien in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zu legen. Ein Staat, in dem ich 1985 geboren wurde, der Deutschland seit dem Jahr 1961 durch die Trennung einer Mauer in zwei Staaten, wirtschaftliche und politisch konträre Systeme teilte. 1990er Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Beginn eines Prozesses der Wiedervereinigung hat sich die Realität für Millionen von Menschen in Ostdeutschland radikal verändert. Viele haben ihre Arbeit verloren, ihre Ausbildungen wurden teilweise nicht mehr anerkannt und es galt, 40 Jahre eines vielschichtigen Lebens in einem repressiven Staat aufzuarbeiten.
Mir war es von Anfang an wichtig, persönliche Geschichten von Frauen in den Mittelpunkt zu stellen, die, im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen in der DDR, meist nur wenig Aufmerksamkeit erhielten. Frauen, die mit Kreativität und Eigenwilligkeit ihren Ansprüchen konsequent nachgehen und weiterhin nachgehen – in der Kunst, ebenso wie in ihrer Lebenseinstellung. Mit Erika und Christine habe ich während meiner Recherche zwei Frauen kennengelernt, die sich in ihrer Liebe füreinander, ihrer schöpferischen Individualität und ihrem Glauben an künstlerische Selbstbestimmung und Freiräume, trotz politischer Umstände, treu geblieben sind. Mir war es wichtig, einen Dokumentarfilm zu machen, der die Nuancen des Lebens in der DDR zeigt und dadurch die Komplexität der Auseinandersetzung mit dem System verdeutlicht. Nicht nur den lauten Protest, sondern die Gestaltung eines Lebens in einem eigenen, geschaffenen Raum wie dem Kunsthof Lietzen. Der Kunsthof kann dabei stellvertretend für die vielen künstlerischen Freiräume, die sich Leute in der DDR schufen.
Erika und Christine inspirieren mich, in ihrer Art und Weise auf das Leben zu schauen. Mit heute 85 Jahren befragen sie immer wieder in einer lebendigen und selbstkritischen Betrachtung die gesellschaftlichen Entwicklungen um sie herum – ebenso wie ihre eigene Geschichte. Ich traf die beiden 2015 auf dem Kunsthof in Lietzen bei einer Recherche-Reise. Ihr offener, kritischer und humorvoller Umgang miteinander hat mich von unserem ersten Treffen an fasziniert. Seit diesem Tag an haben wir viel Zeit zusammen verbracht und gemeinsam viel diskutiert. Der Film entstand mit meiner Kamerafrau Annegret Sachse und meiner Tonfrau Billie Jagodszinska in einem sehr kleinen Team. Über ein Jahr hinweg wohnten wir für den Dreh über längere Zeiträume mit Erika und Christine in Lietzen.





Synopsis
Team
Regie & Buch: Therese Koppe
Montage: Evelyn Rack
Bildgestaltung: Annegret Sachse
Sound: Billie Jagodzinska
Sound Design: Irma Heinig
Der filmische Rechercheprozess
Die Intimität und Vertrautheit zwischen meinen Protagonistinnen Erika und Tine und mir ist über eine lange Zeit der Recherche und des Kennenlernens möglich geworden. Erika beschreibt es immer so schön, wenn sie sagt: „Aus einer Recherche ist eine Freundschaft geworden und mit der Freundschaft ist ein Film entstanden.“ Ich habe mit Erika und Tine über einen Zeitraum von fast einem Jahr Zeit verbracht, ihnen im Haushalt, Garten und mit der Kunst geholfen und so haben wir uns angefreundet und ein Vertrauensverhältnis entwickelt bevor ich überhaupt zum ersten Mal mit der Kamerafrau Annegret Sachse für einen Rechercheure nach Lietzen gefahren bin.
Durch einen glücklichen Zufall habe ich eine kleinen Foto-Auftrag bekommen und Teile von Erikas Werkverzeichnis fotografieren können. Das hat mir die Möglichkeit geboten, noch mehr Zeit auf dem Kunsthof in Lietzen verbringen zu können. Das tolle an dem Fotografieren der Kunstwerke von Erika war, dass ich ihr umfassendes künstlerisches Werk kennenlernte. Ihre Malereien, Drucke, Grafiken, Collagen und Skulpturen. Erikas Kreativität und Neugier für Neues hat in den 50 Jahren ihres künstlerischen Schaffens eine unglaubliche Vielzahl und Vielseitigkeit an Kunst hervorgebracht.
Ich durfte also in der Recherche vor Ort auf dem Kunsthof in Lietzen in eine spannende Welt von Geschichten eintauchen, die über die persönlichen Erfahrungen der beiden Frauen auch einen wichtigen Teil deutsch-deutscher Geschichte mit erzählen. Mit der Zeit durfte ich Tagebücher und Geschichten lesen die Erika und Tine in den letzten Jahren aufgeschrieben haben. Insbesondere Tine hat die Geschichte des Kunsthof Lietzen, aber auch gesellschaftliche Entwicklungen und Geschehnisse poetisch und genau beschrieben. Ein Teil ihrer Tagebuchnotizen und Schriften sind von ihr gesprochen und vorgelesen als Erzählebene aus dem Off zu hören. Auf der Bildebene sind aktuelle Filmsequenzen vom Hof zu sehen, oder Archiv-Fotografien und Archiv-Bewegtbild aus den 1980er Jahren. Eine Zeit in der die Mauer die Bundesrepublik noch in Ost und West trennte. Erst am 9. November 1989 sollte die Mauer fallen. Tine erzählt immer wieder, dass sie das selbst noch im November 1989 eine Öffnung der Mauer nicht für möglich gehalten hätten.
Bildgestaltung
In Zusammenarbeit mit der Kamerafrau Annegret Sachse war uns die Intimität und Ruhe des Ortes und der Räume in Lietzen wichtig einzufangen. Wir haben uns in den Beobachtungen der situativen Szenen in der Gegenwart an das Tempo der Hofbewohnerinnen angepasst. Ihre Körper und die Zeit, in der sie sich in den Innen- und Außenräumen bewegen, sind so kontemplativ wie ihr Nachdenken über die Vergangenheit und ihre persönliche Geschichte. Der Ort hat dieses Wissen für uns in den Bildern, in denen wir ihn einfangen und zu beschreiben versuchen, gespeichert. Er spiegelt die Erinnerungen in der gleichen Intensität wie seine Protagonistinnen und wird so selbst zum Protagonist.


Erzählebenen in Text und Bild
Im Stillen Laut setzt sich aus verschiedenen textlichen und bildlichen Erzählebenen zusammen. Zum einen gibt es in Bild und Ton einen beobachtenden Erzählebene in der Gegenwart. Wir begleiten Erika und Tine in ihrem Alltag auf dem Hof, lernen sie und ihre Umwelt kennen, die Landschaft, in die der Kunsthof Lietzen eingebettet ist, mit seinen Schwalben im Sommer und den drei Katern die das ganze Jahr dort leben. Das manchmal sehr beschwerliche Heizen mit Holz und Kohle in den alten Kachelöfen wirkt wie ein Relikt aus einer anderen Zeit und ist doch noch Gegenwart für die Bewohnerinnen des Kunsthofes.
Neben den situativen Szenen, das heißt aus der Beobachtung heraus aufgenommene Filmbilder, gibt es filmische Sequenzen, in denen eine Stimme von Erika oder Tine aus dem Off zu hören ist, sie sich aber selbst nicht im Bild befinden. Bild und Ton sind getrennt voneinander montiert, um so eine poetische, assoziative Qualität zu erzeugen. Wir hören den Geschichten der beiden zu wie sie von der Vergangenheit und der Geschichte des Hofes erzählen und sehen dazu Bilder vom Hof heute, Archiv-Fotografien und Archiv-Bewegtbilder wie zum Beispiel von Künstler*innengruppen die in der Zeit der 1980er Jahre mit Erika und Tine auf dem Hof gearbeitet haben. Wir sehen in Schwarzweiß Fotografien, wie sie zusammen Musik gemacht, Performances und Theater gespielt und sich über Themen des Lebens ausgetauscht haben — über Kunst, Utopie und Politik.
Archivmaterial
Das Archivmaterial in Form von Fotografien und Super-8mm, sowie Super-16mm Filmaufnahmen habe ich zum einen aus dem Privatarchiv von Erika und Christine bekommen, sowie von befreundeten Künstler*innenkolleg*innen von ihnen. Für den Film „traumhaft“ der Theatergruppe Zinnober, den sie heimlich 1985 in Lietzen mit finanzieller Hilfe des Westdeutschen Rundfunks gedreht haben, habe ich ein ehemaliges Mitglied der Gruppe ausfindig gemacht. Ich hatte das große Glück, dass er Fotografien und die Archiv-Filmaufnahmen bereits in guter Qualität digitalisiert und archiviert hatte. Nach einiger Recherche ausgehend von Namen und Telefonnummern von Erika habe ich die Urheber der schwarzweiß Fotografien von ihr gefunden. Es sind alte Künstlerkollegen von ihr, die mir die Fotos zur Verfügung stellten, als sie hörten, dass ich einen Film über den Kunsthof Lietzen drehe.







Text im Film — Tagebuchaufzeichnungen und Chroniken des Kunsthof Lietzen

Erika und Tine haben beide aus vielen Jahrzehnten umfangreiche Tagebuchaufzeichnungen gesammelt. Einen großen Vertrauensbeweis zeigte mir Erika als ich gemeinsam mit meiner Editorin Evelyn Rack in der Montage feststellte, dass wir gerne noch mehr persönliche Texte von Erika und Tine einbauen möchten. Die Paris-Reise die wir im Film sehen wollten wir unbedingt erzählen. Ich hatte von Erika bereits Farbfotografien erhalten, die sie auf ihrer Studienreise mit dem Verband der Bildenden Künstler (VBK) der DDR aufgenommen hatte. Nun hatte ich ihr erzählt, dass wir noch an der Tonebene arbeiten und noch keine gute Lösung gefunden haben, wie wir die Geschichte mit den Fotografien erzählen können.
An einem Tag fand ich ihr Tagebuch der Paris-Reise von 1979 in meinem Briefkasten. Mit einer Notiz von Erika: „Nimm’ dir alles, was du für den Film brauchst, insofern du es lesen kannst. Ansonsten komm zu mir.“ Ich war sehr berührt von ihrem Vertrauen mir gegenüber ihre intimen Aufzeichnungen lesen zu dürfen. Und es kam noch ein weiteres Geschenk dazu. Es waren nicht nur Aufzeichnungen von Besuchen im Louvre und bei all den künstlerischen Vorbildern Erikas der künstlerischen Moderne, es waren auch Briefe an Tine dabei. Sie hatten sich versprochen, die Reise in Form von Briefen aneinander genau zu dokumentieren. Telefone gab es in der DDR nur wenige und Tine durfte wegen der strengen Ausreisepolitik der DDR nicht mit Erika gemeinsam reisen. So sind die intimen und berührenden Texte in Briefform zur Paris-Reise entstanden.
Christine ist die Chronistin des Hofes. Sie hat alle Gruppen, Veranstaltungen, Performances, Lesungen und Kunst-Sommer-Werkstätten, die seit 1983 auf dem Kunsthof in Lietzen stattfinden, dokumentiert. Dazu hat sie wunderbare poetische Texte geschrieben, die sich mit ihrem Gefühl in dieser Zeit verbinden. Das Gefühl eingeengt zu sein in dieser Diktatur, in der sie eher im Stillen nur laut sein durften, die Beobachtung durch die Staatssicherheit und die Zensur der Bücher in der Verlagsanstalt, in der sie als Lektorin arbeitete. Christine hat an diese Zeit auch viele bedrückende Erinnerungen. Hier ergänzen sich die beiden Frauen für mich im Film dramaturgisch gesehen so wunderbar, weil sie zwei unterschiedliche Perspektiven auf DDR-Geschichte eröffnen. Erika sieht als Sozialistin auch viel Positives, das die DDR ermöglicht hat. Zum Beispiel, dass sie als Kind einer Bauernfamilie Kunst studieren und später in ihrem Beruf arbeiten konnte. Wenn auch, aus ideologischen Gründen, nicht in ihrer eigentlichen Leidenschaft der Malerei. Christine hingegen wurde schon als Kind vom Staat als “feindliches Element” stigmatisiert, weil sie die Tochter eines evangelischen Pfarrers ist. Religion und die Opposition, die sich in der Kirche gebildet hat, waren der staatlichen Elite der DDR bis zum Schluss ein Dorn im Auge.
Referenzfilme

“Grey Gardens” (1975) von den Maysles Brüdern

“Die Frau mit den 5 Elefanten” (2009) von Vadim Jendreyko

“Peter Handke - Bin im Wald. Kann sein, daß ich mich verspäte” (2016) von Corinna Belz
Filmtipp zum Thema
Ein Film der insbesondere lesbisches Leben und Lieben in der DDR durch eine Vielzahl von spannenden Zeitzeuginnengesprächen sichtbar macht ist UFERFRAUEN (2019) von Barbara Wallbraun https://uferfrauen.de